Aus der Geschichte der SPD

23. Mai 1875:
Der ADAV und die SDAP vereinen sich zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands.

Arbeit muss dem Leben dienen

„Sozial ist nicht, was Arbeit schafft. Sozial ist, was Arbeit schafft, von der man leben kann.“ Zwei Sätze, die Sigmar Gabriel oft wiederholt. Und die 2013 genauso zutreffen wie 1875.

Seit 1871 ist Deutschland geeint. Aber nicht so, wie es sich die demokratischen Revolutionäre von 1832 oder 1848 vorgestellt haben. Bismarck hat ein Groß-Preußen geschaffen auf der Basis militärischer Erfolge. Die deutsche Wirtschaft boomt. Tüchtige Unternehmer und Spekulanten häufen ungeahnte Reichtümer an. Neuartige Industriebetriebe hungern nach Arbeitskräften. Menschen beginnen, vom Land in rasch wuchernde Städte zu strömen.

Der freie Markt kennt keine Regeln
Dort finden sie zwar Arbeit, aber unter welchen Bedingungen! Sie werden miserabel bezahlt. Es gibt keine Arbeitszeitbegrenzung. Arbeitsschutz ist ein Fremdwort. Die Lebensbedingungen rund um neue Fabriken spotten jeder Beschreibung. Der freie Markt kennt nur ein Motto: mehr, schneller, billiger.

Die führenden Köpfe der Arbeiterbewegung erkennen: Der Markt will keine Regeln. Sie müssen ihm aufgezwungen werden. Das wird nur gelingen, wenn alle, die ein Interesse daran haben, zusammenstehen. In Solidarität.

Zudem wird nach der Reichseinigung im Jahr 1871 das Klima für Sozialdemokraten rauer: Um das Reich im Inneren zu stabilisieren, soll die sozialdemokratische Bewegung ausgeschaltet werden, der 1863 von Ferdinand Lassalle

angestoßene „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ (ADAV) ebenso wie die 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP). Daraus erwächst der Wille, die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung zu überwinden und die Kräfte zu bündeln.

Forderungen nach Demokratisierung
Vom 23. bis 27. Mai 1875 treffen sich 74 Delegierte des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ und 56 Delegierte der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ in Gotha, exakt zwölf Jahre nach der Gründung des ADAV. Beide Parteien haben zusammen knapp 25.000 Mitglieder. Gemeinsam gründet man die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP).

„Die bloße Kunde von der Aufnahme von Vereinigungsverhandlungen hatte das sozialistische Berlin elektrisiert. Es herrschte in der Versammlung ein Enthusiasmus, der alles fortriß“, berichtet Eduard Bernstein, der den Einigungsparteitag zusammen mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht vorbereitet.

Die Delegierten beschließen ein kernig formuliertes Programm. Karl Marx wird es aus der Ferne heftig kritisieren, weil es versucht, unterschiedliche Denkansätze zu vereinen. Vor allem aber enthält es klare Forderungen zur Humanisierung der Arbeitswelt.

Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staates:

  1. Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer und obligatorischer Stimmabgabe aller Staatsangehöriger vom zwanzigsten Lebensjahr an für alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oder Abstimmungstag muß ein Sonntag oder Feiertag sein.
  2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk. Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk.
  3. Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.
  4. Abschaffung aller Ausnahmegesetze, namentlich der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze; überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Forschen und Denken beschränken.
  5. Rechtsprechung durch das Volk. Unentgeltliche Rechtspflege.
  6. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten. Erklärung der Religion zur Privatsache.
    (Auszug aus dem Gothaer Porgramm)

Der Staat wird aufgefordert, die Arbeitszeit zu begrenzen und Bestimmungen durchzusetzen, die für Sicherheit am Arbeitsplatz sorgen. Der Leitgedanke: Arbeit muss dem Menschen dienen und ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.

Forderungen von damals noch aktuell
Heute ist dieser Gedanke dem „Markt“, also allen, die in ihm schnell reich werden wollen, genauso fremd wie 1875. Wo Tarifverträge nicht greifen, werden Hungerlöhne gezahlt. Wanderarbeiter hausen in menschenunwürdigen Unterkünften. Frauen vor allem aus Osteuropa werden wie Vieh verkauft.

In fernen Ländern, in denen das Wort Sozialdemokratie ein Fremdwort ist, kennt Ausbeutung keine Grenzen. Dort schuften Kinder, statt zur Schule zu gehen – damit Kleider, Schuhe, Schokolade immer billiger werden, die Profite aber wachsen. Mehr, schneller, billiger.